
Der große Knall - Geschichte des Schießpulvers
Episode Description
Als das Schießpulver im Mittelalter aus Fernost nach Europa kam, machte es rasch Karriere im Militär. Für Feuerwaffen wurde Schwarzpulver zum unverzichtbaren Zündstoff. Die Mischung aus Holzkohle, Schwefel und Salpeter blieb über Jahrhunderte im Wesentlichen unverändert - eine Erfindung, mit der sich der Mensch die Welt untertan machte. Von Thomas Grasberger
Credits
Autor dieser Folge: Thomas Grasberger
Regie:
Es sprachen:
Technik:
Redaktion:
Im Interview:
Dr. Benedikt Sepp, Historisches Seminar der LMU München, Abt. Neuere und Neueste Geschichte
Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren:
Dynamit - Ein Sprengstoff macht Geschichte
JETZT ENTDECKEN
Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:
Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir:
ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks.
DAS KALENDERBLATT
Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Radiowissen
JETZT ENTDECKEN
Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
Erzähler
Auf den ersten Blick könnte man die farbenfrohe Miniatur aus dem 14. Jahrhundert für ein buntes Bildchen in einem modernen Comic halten. Es fehlt nur die lautmalerische Sprechblase, in der „Peng!“ steht. Oder „Wumms!“
Erzählerin
„Pot de fer“ – „Feuertopf“ heißt das mittelalterliche Geschütz, das auf einer prachtvoll illustrierten, englischen Handschrift des Jahres 1326 verewigt ist. Ein großes, ockerfarbenes Gefäß, das auf einem vierbeinigen Holzgestell liegt. Im Hals der bauchigen Vase steckt ein Klotz, an dem ein langer Pfeil befestigt ist. Dahinter steht ein Mann, der seine Hände und Arme gepanzert hat. Vorsichtshalber, denn er führt eine brennende Lunte gefährlich nah an das Zündloch heran. Sein Pfeilgeschütz hat er auf ein Burgtor gerichtet. Bereit zum Feuern! – Wumms!
Musikakzent
Erzähler
Dieses unwirklich anmutende Bild mit der bauchigen Pfeil-Schleuder-Vase ist freilich kein Comic, sondern eine der ältesten bekannten Darstellungen einer Feuerwaffe. Seit dem frühen 14. Jahrhundert waren solche Geschütze in den Arsenalen europäischer Herrscher und Potentaten zu finden. Kanonen, die bald nicht nur Pfeile, sondern auch Stein- und Eisen-Kugeln verschießen konnten.
Erzählerin
Voraussetzung für solche Artillerie-Geschütze war eine Erfindung, deren Wirkung alles andere als komisch ist: Denn das Schießpulver – eine Mischung aus Holzkohle, Salpeter und Schwefel – hat in Verbindung mit Feuer mitunter verheerende Folgen.
Zitator:
„Diese gewaltige, unvergleichliche Erfindung, mag sie nun von den Dämonen oder dem Zufall herrühren, stellt alle anderen Destruktionsmittel in den Schatten”,
Erzähler
schreibt der italienische Ingenieur und Artilleriehauptmann Vannoccio Biringuccio im Jahr 1534 in seinem zehnbändigen Werk Pirotechnia über das Schießpulver.
Zitator:
„Wenn es in Tätigkeit tritt, zeigen sich nämlich die schrecklichsten und fürchterlichsten Erscheinungen des Himmels, die sehr oft den Menschen so gewaltigen Schaden und Verlust bringen, wie wenn darin wiederkehrende Blitze oder Erdbeben steckten.“
Erzähler
Schon im 13. Jahrhundert schrieben europäische Gelehrte wie Albertus Magnus oder Roger Bacon über das geheimnisvolle Schwarzpulver, das seinen Namen der Farbe verdankt. Spätere Berichte, dass ein Freiburger Franziskanermönch und Alchemist namens Berthold Schwarz im 14. Jahrhundert das Pulver erfunden haben soll, gehören ins Reich der Legende.
Erzählerin
Denn die brisante Mischung gab es schon viel früher, sagt Benedikt Sepp von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Der promovierte Historiker forscht zur Geschichte von Munition und Waffentechnologie.
ZSP 1 Sepp China 0,17
Das Schwarzpulver, so wie wir es heute kennen, wurde vermutlich in China erfunden, ungefähr um das neunte Jahrhundert. Es gibt auch Hinweise oder Erzählungen, die es eher nach Indien verlagern, aber das kann man nicht wirklich sicher festlegen. Und am wahrscheinlichsten ist es, dass es ungefähr seit dem neunten Jahrhundert in China verwendet wird.
Erzähler
Und das nicht nur, um spektakuläre Feuerwerke zu veranstalten. Bereits Mitte des 11. Jahrhunderts liefert ein chinesisches Militärhandbuch Schwarzpulver-Rezepturen für die Verwendung in Flammenwerfern, Sprengkugeln und Rauchbomben.
ZSP 2 Sepp Feuerlanzen 0,30
Das Schwarzpulver wurde sicherlich auch militärisch genutzt, aber vermutlich noch nicht gleich als Treibladungspulver. Also das ist natürlich nochmal ein Unterschied, ob man eine explosive Bombe oder einen Tontopf gefüllt mit Schwarzpulver auf einen Gegner wirft, oder ob man es verbrennt, um eine Art Feuerlanze dem Gegner entgegenzuschleudern oder ob man es als Raketentreibmittel nimmt. All diese Dinge wurden eben gemacht mit Schwarzpulver, bevor man auf die Idee kam, es in ein Rohr zu tun und dann ein Geschoss dazu zu tun und dann dieses Geschoss durch eine kontrollierte Verbrennung dieses Schwarzpulvers aus dem Rohr zu treiben.
Erzähler
In China findet sich der erste nachweisbare militärische Einsatz von Schießpulver und Kanonen für das Jahr 1232 nach Christus. Auch die Mongolen hatten schon salpeterhaltige Brandsätze im Marschgepäck, als sie vergeblich versuchten, die japanischen Inseln zu erobern. Solche Belagerungs- und Handfeuerwaffen aus Fernost kamen dann vermutlich über die Araber auch langsam nach Europa.
Erzählerin
Wo im 14. Jahrhundert ein echtes Wettrüsten einsetzt. In Italien, England, Frankreich, auch in deutschen Landen – überall basteln findige Techniker an den neuen Feuerwaffen. Mitte der 1320er Jahre werden in Dokumenten der Republik Florenz erstmals eiserne Geschosse und Kanonen aus Metall erwähnt. Und der Einsatz dieser neuen Waffen lässt auch nicht lange auf sich warten: 1331 bei der Belagerung der norditalienischen Stadt Cividale. Oder 1346 in der Schlacht bei Crécy im Norden Frankreichs.
Erzähler
Besonders wirkungsvoll waren diese ersten Kanonen wohl nicht. Noch in der berühmten Schlacht von Agincourt 1415 sorgten sie vor allem für viel Schall und Rauch auf dem Schlachtfeld. Nur zufällig wurde mal ein französischer Ritter oder ein englischer Bogenschütze getroffen. Was in besseren Kreisen für Empörung sorgte, weil nun jeder dahergelaufene Bauernbursche einen Edelmann vom Pferd schießen konnte. Aufhalten ließ sich die Entwicklung aber nicht. Denn im Lauf des 14. und 15. Jahrhunderts machte die Artillerie weitere Fortschritte...
Erzählerin
… obwohl tonnenschwere Belagerungsgeschütze schwer zu transportieren und umständlich zu laden waren. Als 1437 ein Büchsenmeister aus Metz an einem Tag – man höre und staune! – drei Schuss abfeuerte und dabei auch noch ins Schwarze traf, verdächtigten ihn seine eigenen Leute der Magie und schickten ihn auf eine Pilgerfahrt nach Rom.
Erzähler
Die Entwicklung effektiver Schusswaffen war halt ein sehr langwieriger Prozess, sagt der Historiker Benedikt Sepp.
ZSP 3 Sepp lange gedauert 0,41
Das Interessante am Schwarzpulver ist, dass es natürlich auf der Oberfläche eine unglaubliche Revolution im Kriegswesen darstellt. Es macht plötzlich bumm, es explodieren Dinge. Man kann sich nur vorstellen, wie das auf die Zeitgenossen gewirkt haben muss. Aber es wäre sozusagen zu einfach anzunehmen, dass das wirklich plötzlich eine Revolution war, nach der alles anders war. Die ersten Feuerwaffen waren natürlich auch nicht wirklich leicht zu handhaben, man konnte nicht wirklich gut zielen damit und im Zweifelsfall ist man selber damit in die Luft geflogen. Und es war deswegen eine wirklich über viele Jahrhunderte dauernde langsame Entwicklung, stetige Verbesserung und Anpassung und Erforschung des Potenzials der Feuerwaffen, bis die dann wirklich einen großen Unterschied in der Schlachttechnik gemacht haben.
Erzählerin
Ballistik-Studien erhöhten die Treffgenauigkeit der Kanonen, neue Gusstechniken machten ihre Rohre stabiler. Und auch an der Verbesserung des Pulvers probierten die Kriegs-Handwerker ständig herum. Wobei die Grundbestandteile stets gleich blieben: Holzkohle, Schwefel und vor allem Salpeter.
Erzähler
Transportierte man so eine Pulvermischung auf Pferdekarren, stand zu befürchten, dass es sich durch das Rütteln wieder entmischte und unbrauchbar wurde. Auch war es nicht immer einfach. sein Pulver trocken zu halten und in einen engen Pistolenlauf einzustreuen.
ZSP 4 Sepp Körner 0,36
Diese ganze Pulverform war im Grunde ein Ärgernis, das die ganzen Waffen wenig praktikabel machte. Deswegen könnte man sagen, die einzige wirkliche technologische Innovation, die das Schwarzpulver verbessert hat, war im 14.Jahrhundert, dass man auf die Idee kam, man mischt ein bisschen Wasser hinein und tut es dann in eine Mühle und macht dann sozusagen trockene Körner daraus. Und da kann man auch durch die Korngröße so ein bisschen steuern, wie schnell das Ganze verbrennt und das dann auf unterschiedliche Waffentypen abstimmen. Das war tatsächlich dann ein kleiner Sprung, der bessere Waffen erlaubte. Aber seitdem, vom 14.Jahrhundert bis zum 19.Jahrhundert war das im Grunde das gleiche.
Erzähler
Die Sprengkraft des Schießpulvers machte es nicht nur für Militärs interessant. Im Tiroler Eisacktal hat man es bereits 1481 im Straßenbau eingesetzt. Und in den Bergwerken Venetiens wurde in den 1570er Jahren erstmals auch untertage „geschossen“. So nennen die Bergleute bis heute ihre gefährlichen Sprengungen im Stollen. Die Zerstörungskraft des Pulvers, etwa in schweren Belagerungswaffen, hat auch den Architekten von Festungsanlagen viele schlaflose Nächte bereitet.
ZSP 5 Sepp Festungen 0,23
Man hat natürlich die Festungen nicht mehr unbedingt auf heranstürmende Horden mit Leitern abgestimmt, sondern eben darauf, dass die Mauern Kanonenkugeln widerstehen können. Die Mauern wurden also tendenziell niedriger, aber dicker. Und man hat dann, wie etwa in den sternförmigen Festungen, angefangen sie auch vom Grundriss her darauf abzustimmen, dass man überall möglichst hinschießen kann, möglichst große Bereiche erreichen kann.
Erzähler
Das Schießpulver revolutionierte auch die Kriegführung auf dem Meer. Dank Pulver und Blei konnten Seeschlachten nun auf Distanz ausgetragen werden. Immer größere Schlachtschiffe mit zunehmend schweren Geschützen kämpften oft tagelang gegeneinander. Im Juni 1666 standen sich im Ärmelkanal mehr als 150 Schiffe der englischen und der niederländischen Flotte gegenüber. Vier Tage lang belegten sie sich mit Breitseiten. Einige Schiffe mussten mehr als 1000 Treffer einstecken. Es gab über 5000 Tote auf beiden Seiten.
Erzählerin
Dem Schießpulver ist außerdem eine internationale Regelung zu verdanken, die im 17. Jahrhundert eingeführt wurde und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gültig blieb. Die sogenannte Drei-Meilen-Grenze definierte, was als Küstengewässer galt, und wie weit ein Staat seine Hoheitsrechte beanspruchen durfte. Nämlich so weit, wie er mit seinen Kanonen vom Land aus aufs Meer schießen konnte. Im 17. Jahrhundert waren das etwa drei nautische Meilen, also gut fünfeinhalb Kilometer.
Erzähler
Die Schiffe der europäischen Mächte segelten damals schon viel weiter über die eigenen Küstenlinien hinaus, rund um die Welt, die sie sich aufteilten und untertan machten. Unter anderem mit Hilfe des Schießpulvers. Der US-amerikanische Wirtschaftshistoriker Philip T. Hoffman beantwortet die Frage „Wie Europa die Welt eroberte“ mit den vielen Kriegen, die die europäischen Mächte zwischen 1550 und 1750 führten. Diese Kriege waren wie ein permanentes Turnier, in dem Runde für Runde um Territorien, Ruhm und Reichtum gefochten wurde. Die Gegner standen in einem dauernden Wettbewerb, der auch zu militärischen Innovationen führte, vor allem bei den Feuerwaffen.
Erzählerin
Aber ausschließlich mit Pulver und Blei lässt sich die europäische Expansion nicht erklären, sagt der Historiker Benedikt Sepp. Schließlich kannte man ja auch in China, Vietnam, Indien oder Japan bereits Kanonen und Pistolen.
ZSP 6 Sepp brutal 0,16
Man kann den Kolonialismus sicher nicht mit Schwarzpulver erklären und man kann eben nicht sagen, dass Feuerwaffen etwas waren, das nur der Westen oder nur die Europäer hatten. Aber sicherlich spielte die Feuerwaffentechnologie eine Rolle bei der enormen Brutalität der europäischen Expansion oder der westlichen Expansion.
Erzähler
Eine Brutalität, von der auch Europas Soldaten nicht verschont blieben. Sie mussten erst diszipliniert werden, als im 17. und 18. Jahrhundert stehende Heere in Mode kamen. Kasernen wurden eingerichtet, in denen militärischer Drill auf der Tagesordnung stand. Denn die Kämpfe in geordneten Linienformationen waren blutig und verlustreich. Kein vernünftiger Mensch wäre freiwillig stehengeblieben oder gar weitermarschiert, wenn feindliche Musketen und Kanonen auf ihn feuern. Es sei denn, er wurde vorher darauf gedrillt.
ZSP 7 Sepp Drill 0,26
Das ist natürlich dann aber wirklich eine unmittelbare Folge von eben der Musketentechnologie. Also dadurch, dass die Treffsicherheit nicht so arg groß war, oder eigentlich überhaupt nicht groß war, musste man, um Feuerwaffen sinnvoll einsetzen zu können, natürlich möglichst im Pulk schießen, also alle gleichzeitig in die grobe Richtung schießen. Und das musste natürlich enorm gedrillt werden, weil mit dem ganzen Rauch, dem Lärm, den Sterbenden, dem Schreien der Verwundeten war das natürlich etwas, was nur über Muskelgedächtnis funktionieren konnte und über eisenharte Disziplin.
Erzähler
Feuerwaffen wie Arkebusen oder Musketen wurden laufend verbessert. Bis ins 17. Jahrhundert waren sie mit Luntenschlössern ausgestattet, später mit Rad- und Steinschlössern. Wer mit solchen Vorderlader-Waffen schießen wollte, musste „etwas auf der Pfanne haben“, nämlich Schwarzpulver. Und wer „sein Pulver verschossen“ hatte, musste mit dem Bajonett weiterkämpfen.
Erzählerin
Das Pulver selbst wurde seit Ende des 17. Jahrhunderts in Patronen gefüllt, die sich dauernd weiterentwickelten, von der einfachen Papierpatrone bis hin zur Erfindung der Einheitspatrone aus Metall, die nur noch in das Gewehr eingeführt werden musste. All das, sagt Benedikt Sepp, steigerte die Kapazitäten in der Kriegführung,
ZSP 8 Sepp synthetisch 0,28
Dennoch hat es sozusagen immer noch so geknallt wie im Mittelalter. Es gab wahnsinnig viel Rauch und nach einigen Schüssen waren die Waffen auch im Grunde schon verdreckt, also es war noch nicht so ganz optimal. Das, was dann tatsächlich einen enormen Sprung in der Verbesserung vom Schießpulver darstellen würde, reihte sich dann ein in so eine, könnte man sagen, Ideologie der Chemiker im 19. Jahrhundert, dass man sozusagen alle Substanzen, die man vor vorher irgendwie aus der Natur genommen und dann gemischt hat oder irgendwie behandelt hat, eigentlich synthetisch selbst herstellen kann.
Erzähler
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts hatten Chemiker an verschiedenen Orten Europas angefangen, in ihren Laboren vollsynthetische Sprengstoffe zu entwickeln: Nitroglycerin, TNT, Pikrinsäure oder Cellulosenitrat, die so genannte Schießbaumwolle. Aus der entwickelte der französische Chemiker Paul Vieille 1882 eine nahezu rauchlose Treibladung – das Poudre B. Und sein schwedischer Kollege Alfred Nobel, der zuvor bereits das Dynamit erfunden hatte, ließ sich 1887 das rauchschwache Pulver Ballistit patentieren.
Erzählerin
Damit hatte das jahrhundertealte Schwarzpulver ausgedient. Es wird heute nur noch von Feuerwerkern und in historischen Schützenvereinen verwendet. Denn das neue, synthetische Pulver führte Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Revolution im Militärischen, sagt der Historiker Benedikt Sepp. Weil beim Schuss kaum mehr Rauch aufstieg, konnte man nicht mehr feststellen, wo der Schütze stand. Und mehr noch: Durch das deutlich kräftigere Pulver änderte sich auch die Munition. Die Kugeln wurden kleiner und flogen weiter.
ZSP 9 Sepp flexibler 0,25
Und sie fliegen nicht nur weiter, sie fliegen dadurch, dass sie mehr Energie haben, auch viel flacher. Das heißt in der Praxis, dass man sozusagen keinen Bogen schießen muss, sondern sein Gewehr relativ genau auf das Ziel ausrichten kann und auch nicht vorher überlegen muss: Ist das jetzt 100 Meter weg oder 300 Meter weg? Ich muss mein Visier am Gewehr nicht extra einstellen. Also ich habe plötzlich als einzelner Schütze eine viel größere Handlungsmacht und vielleicht auch Flexibilität in dem, worauf ich dann da schieße.
Erzähler
Weil die Soldaten fortan viel mehr Munition bei sich hatten und ihre Gewehre seltener reinigen mussten, stieg die Feuerkraft enorm. All das führte zu neuen Kampfformen und Militärtaktiken. Weitsichtige Kritiker warnten bereits Ende des 19. Jahrhunderts vor den Folgen.
ZSP 10 Sepp Voraussagen 0,19
Was sich dann im Ersten Weltkrieg natürlich als sehr zutreffende Voraussage erwiesen hat, war, dass sozusagen die Verteidigung viel effektiver war als der Angriff. Durch die Möglichkeit, dass sich Soldaten in irgendwelchen Gräben oder Schützenlöchern verstecken können und dann halt auf die heranlaufenden Angreifer irgendwie schießen können, steigt sozusagen das Risiko des Angriffs in viel höherem Maße.
Erzähler
Vor allem, wenn im Schützengraben gegenüber der Feind mit einem Maschinengewehr lauert, das 500 Schuss pro Minute abfeuern kann. Auch das ein Erbe des neuen rauchlosen Pulvers. Die Auswirkungen zeigten sich bereits 1904/1905 im russisch-japanischen Krieg, wo erstmals beide Seiten mit modernen Artilleriegeschützen und Gewehren ausgerüstet waren. Alle westlichen Mächte schickten Militärbeobachter dort hin, aber die Schlüsse, die sie aus dem Gesehenen zogen, erscheinen aus heutiger Sicht absurd, sagt der Münchner Historiker Sepp. So meinte man etwa im Deutschen Reich, dass durch das rauchlose Pulver und die kleineren Patronen nur noch geringfügige Wunden entstünden.
ZSP 11 Sepp Chirurgie 0,41
Es herrschte da teilweise in der Chirurgie wirklich die Vorstellung, dass diese Kugel sozusagen direkt durch einen Menschen durchgeht und dadurch, dass sie so heiß ist, auch noch den Wundkanal gleich sterilisiert. Und der Soldat könne dann sozusagen einfach aufstehen und irgendwie 5 Kilometer zum Lazarett gehen und sich dann da verbinden lassen und danach wäre es dann auch wieder gut. ((Im Grunde hat man sozusagen dann auch das ganze Lazarettwesen und das Sanitätswesen anhand dieser Vorstellungen umgebaut. Was sich dann natürlich als relativ illusorisch herausgestellt hat, weil das natürlich grausame Wunden geschlagen hat. ((Aber das Interessante ist halt daran, all das hätte man wissen können vom russisch-japanischen Krieg. Und da dann zum Beispiel deutsche Mediziner einfach gesagt haben, naja, das liegt halt vor allem einfach daran, dass die Japaner keine Hygiene kennen oder die sind einfach konstitutiv nicht so geeignet für diesen Krieg.
Erzähler
Vorurteile und fatale Fehleinschätzungen.)) Nur die Allerwenigsten hatten eine realistische Vorstellung davon, welche Dimensionen nur ein Jahrzehnt später der Erste Weltkrieg annehmen sollte. Für die endlosen Materialschlachten waren Unmengen von Munition nötig. Die standen auch zur Verfügung, dank einer bahnbrechenden Erfindung. Denn Anfang des 20. Jahrhunderts hatten die deutschen Chemiker Fritz Haber und Carl Bosch die Ammoniak-Synthese entwickelt.
ZSP 12 Sepp Haber Bosch 0,24
Das wird normalerweise immer als eine der größten chemischen Revolutionen gesehen, vor allem weil man aus diesem Ammoniak dann auch Dünger machen kann und damit die Möglichkeit der Ernährung großer Menschenmengen natürlich enorm vereinfacht ist. Aber es ermöglicht auch, Salpeter synthetisch herzustellen und in viel größeren Mengen. Deswegen ist das Erbe dieser Ammoniakgewinnung nicht nur der Dünger, sondern auch unter anderem eine viel einfachere Versorgung mit Sprengmitteln.
Musik TNT
Erzählerin
Bereits Ende des 19. Jahrhunderts nutzten Terroristen solche Sprengstoffe für ihre Anschläge auf gekrönte Häupter und Politiker. Dynamit, TNT oder Nitroglycerin wurden aber auch von Ingenieuren für zivile Zwecke verwendet: Etwa beim Bau von Straßen, Kanälen oder Eisenbahnstrecken. Buchstäblich mit einem Knopfdruck war der Mensch nun in der Lage, Berge zu versetzen und das Antlitz der Erde nachhaltig zu verändern.
Musikakzent
Erzähler
Schießpulver ist eine der folgenreichsten und zerstörerischsten Erfindungen der Geschichte. In seinen verschiedenen Ausformungen wird es bis heute eingesetzt. Zum Beispiel in Feuerwaffen, von denen weltweit übrigens nur 15 Prozent in den Händen von Militärs liegen, sagt Benedikt Sepp. 85 Prozent aller Feuerwaffen sind demnach in privater Hand. Schätzungen zufolge gibt es allein in den USA an die 400 Millionen Schusswaffen in zivilem Besitz.
ZSP 13 Sepp bis heute 0,17
Es sterben 700 Menschen täglich weltweit an Feuerwaffen. Das sind 45 % aller gewaltsamen Tode weltweit. Und natürlich formen wir auch heute noch die Welt mit Sprengstoffen. Insofern ist das Schwarzpulver und seine Ableger tatsächlich eine der großen Erfindungen, mit der die Menschheit sich die Welt untertan gemacht hat.
Erzählerin
Eine Erfindung, die im Wesentlichen unverändert geblieben ist. Über viele Jahrhunderte hinweg. Kein Wunder also, dass das Schießpulver seine Spuren hinterlassen hat. In unserer Sprache, in der Pop-Musik, in den Krimis und Actionfilmen, die allabendlich über unsere Bildschirme laufen. Überall wird munter geschossen und gesprengt. Auch im Comic!
Erzähler
„Peng! Peng! Wosch!“ Heißt es da zum Beispiel beim legendären Western-Helden Lucky Luke, der während einer Schießerei im Sprengstofflager lakonisch anmerkt: „Besser nicht die Dynamitkiste treffen!“